Die Wirklichkeit am bayerischen G8-Gymnasium

29 September 2013

Die Wirklichkeit am bayerischen G8-Gymnasium

Hinlänglich bekannt ist unser bildungspolitisches Bemühen, „Entschleunigung“ in die bayerischen Schulen zu bringen. Deshalb streben wir FREIEN WÄHLER auch die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium durch eine Wahlmöglichkeit G9 an. Seitens des Kultusministeriums wird dies immer wieder heftig attackiert, weil man nach zahlreichen Reformen des G8-Gymnasiums nun mit dem neuesten Schrei, dem sogenannten Flexibilisierungsjahr, angeblich jedem Schüler seine individuelle Lernzeit geben will. Dass dies mehr Wunsch als Wirklichkeit ist, zeigt allein die Tatsache, dass dies mit 6 bis 8 zusätzlichen Wochenstunden unmöglich ist. Wie es um die Wirklichkeit am bayerischen Gymnasium bestellt ist, möchte ich Ihnen anhand einer Situationsbeschreibung einer Gymnasial-Lehrkraft nicht vorenthalten. Machen Sie sich also selbst ein Bild vom Zustand des G8!


Bad Kissingen


„Ich versuche so sachlich wie möglich zu bleiben, auch wenn's schwerfällt.In der gestrigen Konferenz, deren Ergebnis dem Elternbeirat bekannt ist und auch den Eltern im Juli kommuniziert wird, wurde die Verwendung der Intensivierungsstunden am …-Gymnasium modifiziert. Wie Du ja weißt, hat jede Schule eine gewisse Stundenanzahl an Intensivierungsstunden (IS) die sie selber setzen darf, so dass der Schüler bis zum Abitur auf die vorgeschriebene (völlig überzogenen) Pflichtstundenzahl kommt. An diesem System wurde nun mehrmals herum gedoktert. Erst mussten die „Kleinen“ Pflicht-IS-Stunden über sich ergehen lassen, egal ob sie sie brauchten oder nicht - sehr gute Schüler zusammengepfercht mit Schülern, die wirklich eine Förderstunde brauchen, um Übungen und Lektüren, teils isoliert vom eigentlich Pflichtunterricht, über sich ergehen zu lassen.
Erst letztes Schuljahr ist nach langem Bitten endlich ein Modell zum Tragen gekommen, das die gut besuchten Wahlkurse auch in der Pflichtstundenzahl berücksichtigte, so dass das Ziel gewesen wäre, guten Schülern die freien IS-Stunden durch Wahlkurse ersetzen zu lassen.
Nun gibt es aber in den Klassen 5, 6, 7,8 und 10 Pflicht-Intensivierungs-Stunden, die alle dem gleichen Zweck dienen: Lehrern zu ermöglichen, den überzogenen Ansprüchen des Kultusministeriums gerecht zu werden. Bsp.: In Klasse 7 Pflicht-IS Englisch nachdem die Bücher und der Lehrplan von Vierstündigkeit ausgingen, die nach Einführung des G8 in Dreistündigkeit umgewandelt wurde. Die gesamten Zeiten sind nach Klasse 7 eingeführt, so dass grammatikalische Leere in 8-10 herrscht und durch die Dreistündigkeit und die Fülle der anderen Fächer die Sprachkompetenz abnimmt, es sei denn der Schüler ergreift eigene Maßnahmen wie selbstständiges Erarbeiten des Grundwortschatzes etc.. Klasse 8: Pflicht-Intensivierungsstunden Mathe - aus gleichem Grund. Neuestes Beispiel, das mich in Rage bringt: Pflicht-Intensivierungsstunden Deutsch in Klasse 10, um zu verhindern, dass daran so viele Abiturienten scheitern.
Unser Kollegium sieht, dass viele Schüler an Deutsch scheitern, also geben wir den Schülern die 35. bzw. mit Italienisch die 36. Wochenstunde in Klasse 10, obwohl alle Welt über die ohnehin schon zu hohen Stundenzahlen klagt. Wir doktern an einem Missstand herum, der aus München kommt und die Kinder baden es aus. Ihnen wurde versprochen, wenn ihr Eure Pflichtstundenzahl möglichst bald erreicht, dann bleibt ihr in den oberen Klassen von zusätzlichen IS-Stunden verschont. Nun wird die Angst geschürt und dieses Versprechen gebrochen, d.h. die Mehrzahl der Schüler, denn viele besuchen ja Wahlkurse aus Neigung, wird eine weit höhere Stundenzahl bis zum Abi vorweisen können als eigentlich vorgeschrieben! Sie sind also in ihrem Bestreben um sinnvolles Zeitmanagement betrogen.




Thomas Weiss  / PIXELIO / pixelio.de

Thomas Weiss / PIXELIO / pixelio.de



Aus Elternsicht sehe ich die Ursachen sowieso woanders. Svenja besucht jetzt das 4. Jahr unseres Gymnasiums und nur in einem Jahr wurde in Deutsch überhaupt eine sinnvolle Anzahl an Übungsaufsätzen geschrieben, denn es wird ja propagiert, die Lehrer sollen ökonomisch arbeiten und nur einen kompletten Übungsaufsatz schreiben. Ich denke ich bin lange genug dabei um zu sagen: Blödsinn!
Und natürlich haben wir jetzt nach höheren Zuweisungszahlen von den Grundschulen auch bedingt geeignete Schüler, die sich generell schwerer tun, dem Fach Deutsch nicht immer die nötige Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, da sie einfach dringlichere Baustellen haben, so dass sich das Problem bis zum Abi verschleppt.
Wie geht es also weiter? Wir geben immer weiteren Forderungen aus München nach, die Materie Kind ist schwach und gefügig - auf ihrem Rücken wird dieser auch wirtschaftlich völlig unsinnige Leistungsanspruch ausgetragen. Immer mehr Kinder reagieren mit Bulimie, Depressionen, Migräne und anderen Krankheitsbildern, die ab Wochenmitte zu erhöhten Fehlzeiten führen. Ich muss mein Kind mittlerweile dazu überreden, mal zu Hause zu bleiben und wieder Kraft zu schöpfen, genügend zu trinken. Sie kann an manchen Schulwettbewerben nicht mehr teilnehmen, weil sie den versäumten Stoff dann nicht mehr fristgerecht nacharbeiten kann. Wir sprechen hier von einem Kind mit attestierter Hochbegabung und einem IQ von 146, das von den Eltern überwiegend chauffiert und auch sonst in jeglicher Weise unterstützt wird. Leider erkennen nicht alle Lehrer diese Perspektive auf die aktuelle Situation, in einer Atmosphäre der Angst und des nicht Genügens versucht jeder vor der eigenen Hütte zu kehren, schreibt mehr Test und Exen, um die schlappen, unmotivierten Schüler zu mehr Leistung anzuspornen, egal ob Schüler vorher krank oder auf Wettkampf oder Konzert waren - Hauptsache, die eigene Bilanz stimmt.
Jetzt ist die Beschreibung der Sachlage doch noch emotional geworden.Aber mir geht es im Kern darum, dass hier Wochenstundenzahlen der Kinder immer wieder verschleiert und schleichend erhöht werden, weil Erwachsene unzulänglich arbeiten. Und wenn Du denkst, wir Lehrer blieben verschont, dann liegst Du falsch. Auch uns wird immer wieder mit einem Lächeln noch ein Zusatzprojekt aufgebürdet, aber darum geht es mir heute nicht - mir geht es um die Kinder, um die kommende Generation, die systematisch geschunden wird. Mir geht es um ein Schulwesen, um das uns mal alle beneidet haben bis die PISA-Gläubigkeit und die folgenden Veränderungen/Verschlechterungen eingesetzt haben.
Ich hoffe, Dein Bruder kann mit dieser praktischen Umsetzung ministerieller Vorgaben etwas anfangen. Denn es liegt ja nie an denen, sondern immer am Kind und maximal am Lehrer.
Sonst geht es uns ganz gut, aber wir haben beide innerlich gekündigt - ich denke, Du kannst ermessen, was das bei meinem Mann heißt“.



 

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